Vom Leben und vom Sterben auf einer Palliativstation – Ärztliche Erfahrungen

Als ich im Frühjahr 1985 meine erste Stelle als Assistenzarzt in der internistischen Abteilung des Vincenz-Krankenhauses, wie das heutige MKM damals noch hieß, antrat, war für mich klar, dass ich internistischer Hausarzt werden wollte. 1990, ich war damals 34 Jahre alt, kam dann das Schlüsselerlebnis der Krebserkrankung eines 60jährigen Verwandten, der innerhalb von 3 Monaten an seinem Krebsleiden verstarb; plötzlich auf der anderen Seite stehend wurden mir schmerzlich die vielen Defizite in der Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen bewusst, und ich entdeckte die aus Großbritannien und Kanada kommende Hospiz- und Palliativbewegung

Ich hatte in der Folgezeit das große Glück, wunderbare visionäre Menschen kennenzulernen; z.B. den Arzt und Medizinprofessor Robert Twycross in Oxford, der die Morphinbehandlung von Schmerzen auf eine wissenschaftliche Basis stellte; den Krankenpfleger und katholischen Pfarrer Heinrich Pera, der noch zu DDR-Zeiten in Halle die dortige Hospizbewegung gründete; und vor allem die englische Palliativärztin Sheila Cassidy, deren auch in Deutschland erschienenes Buch: „Sharing the darkness – die Dunkelheit teilen“, für mich eine regelrechte Offenbarung war:

„Was also hat die prophetische Hospizbewegung dem breiten Strom der Medizin zu sagen? Vielleicht sind wir, wie die alten Propheten, die Fürsprecher der Unterdrückten. Wir hören auf die Schreie der Menschen und reden in ihrem Namen. Wir geben weiter, dass sie als normale, selbstverantwortliche Menschen behandelt werden wollen. Sie wollen, dass man ihnen ihre Krankheit in Worten erklärt, die sie verstehen können, und dass man die Behandlung mit ihnen abspricht. Sie möchten ihre Würde als Individuen behalten und soweit möglich Kontrolle über ihr Leben behalten. Sie möchten an unseren Entscheidungsfindungen teilnehmen. Sie möchten, dass wir aufrichtig mit ihnen umgehen, warmherzig und bescheiden. Mehr als alles andere verlangen sie von uns, dass wir Kompetenz und Kompassion miteinander verbinden, und dass wir, wenn unsere Hände leer sind, nicht davonlaufen, sondern den Schrecken der Dunkelheit mit ihnen teilen. Vor allem anderen brauchen sie unsere Liebe.“

Sheila Cassidy: „Sharing the darkness – die Dunkelheit teilen“

Ich erinnere mich noch wie heute an die Zugfahrt, während der ich diese Zeilen las; ich hatte endgültig mein berufliches Lebensthema gefunden.

Und schließlich hatte ich das Glück, in Prof. Christoph Huber, dem Direktor der III. Medizinischen Klinik, einen engagierten Förderer zu finden, der mir viele Wege ebnete und schließlich auch entscheidenden Anteil hatte an der Gründung der Palliativstation an der Universitätsmedizin im Dezember 2005, die ich seitdem leite.

Diese Station hat Platz für 8 Patienten in 8 Einzelzimmern, die mittlere Verweildauer liegt bei ca. 11 Tagen, pro Jahr sind es gut 200 Menschen, die auf dieser Station betreut werden, dazu kommen weitere ca. 700, die von unserem klinikinternen Palliativteam in den verschiedenen Abteilungen der Universitätsmedizin begleitet werden.

Grundbedürfnisse der Patienten: Nicht unter starken Schmerzen und anderen belastenden Symptomen leiden – Nicht alleine gelassen sein – unerledigte Geschäfte zu Ende bringen – nach dem Sinn fragen – bis zuletzt als Person geachtet sein.

Unsere Patienten sind so unterschiedlich, wie Menschen nun einmal sind, und so unterschiedlich ist auch der je eigene Umgang mit der Realität des unausweichlichen Todes. Wir alle wissen ja, dass wir sterben müssen, aber es ist ein theoretisches Wissen, ein „Denkwissen“. Wie wir mit dieser Wahrheit umgehen, wissen wir erst, wenn wir sie als unmittelbare persönliche Realität erfahren, und hier schließe ich mich ausdrücklich ein. Ich kenne Patienten, die mich beeindruckt und berührt haben, weil sie offenbar die Fähigkeit hatten, auch in dieser Situation inneren Frieden zu finden, die offen waren für die Möglichkeiten auch der gegenwärtigen Situation, die ihr Leben auch im Kontext von Leiden als sinnvoll und sinnerfüllt sahen, die mit sich selbst, mit anderen, mit der sichtbaren Welt oder auch mit einem letzten Sinn verbunden schienen, die auch in dieser Situation davon sprachen, dass sie sich getragen fühlten, ja dass sie in der Gnade seien. Und andere, die zerrissen erschienen, die nicht in der Lage waren, Trost oder Frieden zu finden, die geprägt waren von dem Gefühl, Opfer zu sein, für die die krankheitsbedingte Abhängigkeit eine unablässige Verletzung ihrer Würde war. Und wir sehen viele, die beide Seiten in sich vereinen, bei denen mal die eine, mal die andere Seite das Übergewicht hat.

Unsere Aufgabe: Begleiter:innen zu sein, aus unserer Erfahrung Hinweise, aber keine Rat-Schläge geben; vor allem aber: eine Haltung zum Ausdruck bringen, die geprägt ist vom Respekt vor dem Weg, den jede, jeder Einzelne am Ende alleine gehen muss. Ja, es geht auch um die Bereitschaft, die Dunkelheit zu teilen, um den Buchtitel der von mir vorhin zitierten Sheila Cassidy aufzugreifen.

Es geht aber auch um eine Haltung, die zutiefst geprägt ist von der Bedeutsamkeit und der Kostbarkeit dieser Lebenszeit, ohne sie zu beschönigen. Die Ärztin Cicely Saunders, die Gründerin der Hospizbewegung hat das so ausgedrückt:

„You matter because you are you. You matter to the last moment of your life, and we will do all we can not only to help you die peacefully, but to live until you die.“

„Sie sind wichtig, weil Sie Sie sind. Sie sind wichtig bis zu Ihrem letzten Atemzug. Und deswegen werden wir alles tun, um Ihnen zu helfen, nicht nur, dass Sie in Frieden sterben, sondern dass Sie leben bis zuletzt.

Cicely Saunders, Gründerin der Hospizbewegung

Jedes Jahr betreuen wir ca. 200 Patienten, von denen ca. 65% auf der Palliativstation versterben; auf der einen Seite ist es für viele überraschend, dass die Palliativstation für 1/3 der Patienten nicht die letzte Station ist; auf der anderen Seite sind es eben doch pro Woche 2 – 3 Menschen, die auf dieser Station versterben, deshalb nimmt die Sterbebegleitung auch großen Raum ein.

Der eigentliche Sterbeprozess erstreckt sich in der Regel über einige Tage, manchmal sind es nur 2 oder drei Tage, manchmal auch 7 oder 10 Tage. Es gäbe dazu vieles zu sagen, ich will mich auf zwei Themen beschränken.

Für uns als professionelle Helfer:innen sind die physiologischen Vorgänge im Sterbeprozess bekannt, der Umgang mit den körperlichen Veränderungen ist gewissermaßen Routine. Für die Angehörigen ist es eine neue und in der Regel beängstigende Erfahrung. Es ist essentiell, dass hier für das Gespräch, für den Austausch Raum ist; und zwar nicht nur einmal, sondern fortlaufend. Der Sterbeprozess ist auch für die Angehörigen Schwerstarbeit, mit immer wieder neuen Fragen, aber auch der Notwendigkeit, bereits beantwortete Fragen nochmals zu beantworten. Auf den Akutstationen ist hierfür kaum Zeit, manchmal auch wenig Verständnis. Als Ärzt:innen sind wir in der Versuchung zu denken, dass diese Begleitung primäre Aufgabe der Seelsorge oder der Psychologie ist; unsere Aufgabe scheint ja gewissermaßen erfüllt, vielleicht fühlen wir uns auch ohnmächtig, da der Tod doch die Oberhand gewonnen hat; und dabei sind wir gerade auch in unserer Rolle jetzt so wichtig.

Der Psychotherapeut Irvin Yalom lässt in seinem Roman: „Die Reise mit Paula“ seine krebskranke Protagonistin das so ausdrücken:

„Was ist bloß mit den Ärzten los? Warum begreifen sie nicht die Bedeutung ihrer schieren Gegenwart? Warum können sie nicht erkennen, dass gerade der Augenblick, in dem sie sonst nichts mehr zu bieten haben, der Augenblick ist, in dem man sie am nötigsten hat?“

Irvin Yalom: „Die Reise mit Paula“

Das Zweite: Angehörige sind oft unsicher, was dann, wenn der Tod unabwendbar ist, wenn der geliebte Mensch immer schwächer wird, vielleicht auch nicht mehr antworten kann, noch gesagt werden kann.

Es gibt zu diesem Thema ein wunderbares Buch eines amerikanischen Palliativmediziners, Ira Byock, leider ist es nicht ins Deutsche übersetzt: „The four things that matter most“. Die vier wichtigsten Dinge, die – ich ergänze – spätestens (!)am Ende des Lebens gesagt werden sollten – vom Sterbenden und von denen, die bleiben.

Tatsächlich sind es vier sehr einfache Dinge, und man wundert sich zunächst, dass jemand ein ganzes Buch darüber schreiben kann:

Ich liebe Dich

Ich bitte Dich um Verzeihung

Ich verzeihe Dir

Ich danke Dir.

Tatsächlich sind es einfache Dinge, und doch bleiben sie so oft ungesagt, und besonders schwer tun sich in der Regel die Männer.

Natürlich ist der Sterbeprozess eigentlich nicht die einzige Gelegenheit, diese „four things that matter most“ auszusprechen, und doch ist meine Erfahrung, dass die existentielle Krise, die fast immer mit dieser Zeit verbunden ist, auch eine Chance ist, dass Verhärtetes, Starres weich, durchlässig werden kann und sich Chancen für wirkliche Begegnung auftun.

Viktor Frankl: Das Leiden macht den Menschen hellsichtig und die Welt durchsichtig.

Zu den Themen, die wir immer mit den Angehörigen besprechen, gehört auch das Abschiednehmen nach dem Tod. Wir hören oft den Satz: „Ich möchte meinen Angehörigen so in Erinnerung behalten, wie er im Leben war“; oder: „Mein Kind ist noch viel zu klein, es soll die Großmutter so nicht sehen“. Wir ermutigen immer dazu, noch einmal zu kommen und die besondere Würde, ja nicht selten sogar Schönheit, die Verstorbene einige Stunden nach dem Tod ausstrahlen, zu erfahren; und wir empfehlen immer, die Kinder zu fragen, ob sie kommen möchten – in der Regel möchten sie es nämlich, möchten die Leiche berühren, möchten einbezogen und nicht ausgeschlossen sein.

Ich werde oft gefragt, wie man denn so viel Leid und Sterben und Tod aushalten kann.

Wichtig ist: Wir haben viele Erfolgserlebnisse (z.B. eine erfolgreiche Schmerztherapie), erfahren sehr viel Dankbarkeit, wir profitieren von wunderbarer Teamarbeit, wir haben Zeit und Raum für ganzheitliches Arbeiten. Vor allem haben wir auch das Privileg, Zeuge existentieller Vorgänge zu sein, Menschen wachsen über sich heraus, entdecken Seiten an sich, die ganz unbekannt waren. Es ist ein Privileg und eine zutiefst ärztliche Aufgabe, dazu beitragen zu dürfen, dass ein Lebenshaus, das so morsch erschien, dass sein Besitzer es nur noch verlassen wollte, wieder bewohnbar wird, ja dass sein Besitzer in ihm Räume entdeckt, die er bisher noch gar nicht kannte, neue Perspektiven und Aussichten aus Fenstern wahrnimmt, die bisher verschlossen waren.

Freilich: Es gibt auch andere und auch nicht wenige Tage, in denen wir schmerzlich daran erinnert werden, dass bei allem, was wir sagen und bewirken können, der Sterbeprozess unvermeidlich Leiden und Trennung und Unerledigtes, das nicht mehr bereinigt werden kann und ausgehalten werden muss, umfasst. Mein klinischer Lehrer Robert Twycross, der Medizinprofessor aus Oxford, von dem ich eingangs sprach, schrieb dazu:

„Wenn es irgendwann einmal so ist, dass ich denke, die Betreuung Sterbender zu beherrschen, dann wäre das ein Zeichen für mich, die Medizin zu verlassen und in den Gartenbau zu gehen. Wenn es jemals einfach wird, dann kann ich sicher sein, dass ich für meine Patienten nicht mehr von Nutzen bin.“

Robert Twycross

So wie das Werden und die Geburt eines Menschen im Grunde ein unbegreifliches Geschehen ist, so scheint mir auch sein Sterben von einem Geheimnis umgeben zu sein, mit je eigenen Gesetzen und Abläufen, die mich immer wieder neu erstaunen, auch demütig werden lassen, und die mich persönlich ahnen und hoffen lassen, dass es mehr als die für uns sichtbare Wirklichkeit gibt. So möchte ich denn auch schließen mit einem sehr bekannten Gedichtvers von Rainer Maria Rilke:

„Oh Herr gib jedem seinen eignen Tod; das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not.“

Rainer Maria Rilke
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